Das traurige Herz (Blog-Beitrag im November)
Es war einmal ein Herz, das war sehr, sehr traurig – unendlich traurig.Verzweifelt setzte es sich ins Gras. Hier wollte es bleiben. Es gab ja doch nichts anderes mehr als Traurigkeit.
“Hallo!”, hörte es plötzlich eine freundliche Stimme. “Was machst du hier so allein auf der Wiese?” “Ach”, antwortete es. “Kannst du nicht einfach weitergehen – ich will hier einfach sitzen und warten, dass alles zu Ende ist. Lass mich einfach sterben. Ich bin so unsagbar traurig.”
“Ach so - du bist nur traurig. Weißt du denn gar nicht, was für ein großes Glück das ist?” “Wieso sollte das denn wohl ein Glück sein? Du warst bestimmt in deinem ganzen Leben noch niemals wirklich traurig, sonst würdest du so einen Unsinn nicht von dir geben. Geh jetzt weiter, ich habe genug von dir!”
“Tja”, seufzte das freundliche Herz, “so mag es vielleicht aussehen. Aber glaube mir, mir ging es soooo viel schlechter als dir.” “Quatsch! Schlechter als mir kann es dir gar nicht gegangen sein. Ich sage doch: Du hast keine Ahnung!”
“Du hast Recht, ich war nie so traurig wie du.”
“Siehst du”, triumphierte das traurige Herz, “sag ich doch.”
“Weißt du, ich war nicht traurig, ich war gar nichts mehr. Mir war alles egal – nein - nicht einmal das, ich hatte gar kein Gefühl mehr. Wahrscheinlich hätte ich mir gewünscht, einfach nur traurig zu sein, aber ich wusste schon gar nicht mehr, wie sich das anfühlt.”
Jetzt horchte das traurige Herz doch auf. Sollte es einen Zustand geben, der noch schrecklicher sein konnte als das, war es gerade fühlte?
“Hmm”, machte es, “ich kann es mir gerade überhaupt nicht vorstellen wie es ist, wenn man gar nichts mehr fühlt.”
“Na ja – erstmal eigentlich nicht wirklich schlecht. Bei mir war es so, dass ich erst überhaupt nicht bemerkt habe, dass mir meine Gefühle abhanden gekommen sind, als sich mein Leben von jetzt auf gleich durch dieses schreckliche Unglück komplett verändert hatte. Zunächst habe ich einfach nur funktioniert. Alle - außer mir - haben sich gewundert, dass es mir nichts auszumachen schien, was passiert war. Ich sagte mir: Ist jetzt eben so, wie es ist. Ändern konnte ich ja sowieso nichts.”
“Ja – aber jetzt kommst du mir ziemlich aufgeräumt vor. Wie kommt es, dass du wieder so fröhlich sein kannst, dass es für mich schon fast nicht mehr auszuhalten ist?”
“Ich hatte zum Glück eine liebe Freundin. Der ist es gelungen mir klar zu machen, dass ich meine Fröhlichkeit, meine Tatkraft und alles was mich vorher ausgemacht hat, eingetauscht hatte, nur um nicht traurig zu sein. Nach vielen, vielen Gesprächen und unzähligen Umarmungen war ich endlich soweit, die Mauer, die ich um mein Herz gebaut hatte, einreißen zu lassen. Dafür gibt es tatsächlich Spezialisten. Auch das hat mir meine Freundin erzählt.
Natürlich tat es unglaublich weh, der Traurigkeit ins Gesicht zu sehen. Aber nachdem ich ihr erlaubt hatte, bei mir zu sein, wurde es nach und nach besser. Wirklich! Schon das Traurig sein fühlte sich tausendmal besser an, als gar nichts zu fühlen. ...und langsam, wirklich langsam, haben sich die anderen Gefühle wieder bei mir eingefunden. Nicht nur die positiven, sondern auch die anderen, wie z. B. die Wut, denn auch die gehören dazu.
Jetzt habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, den traurigen Herzen zu sagen, dass sie stolz auf sich sein können, wenn sie die Traurigkeit erst einmal zulassen. Und wenn mir eines wie du begegnet, kann ich aus Erfahrung sagen: Lass auch du es zu, wenn du traurig bist, aber verliere dich nicht in dem Gefühl. Lade die Traurigkeit ein, von Zeit zu Zeit bei dir Platz zu nehmen und du wirst recht bald merken, dass es einen Unterschied macht.”
“Wie soll ich denn die Traurigkeit einladen, wenn sie schon den ganzen Platz, den ich habe, einnimmt?”
“Dabei kann dir ein Trick helfen:
Stell dir vor, sie hat kurz den Raum verlassen und ist vor die Tür gegangen. Stell dir weiter vor, du öffnest ihr freundlich die Tür, bietest ihr einen Platz auf deinem Sofa an und setzt dich zu ihr. Vielleicht kommt ihr ins Gespräch und du wirst feststellen, dass sie durchaus spannende Freunde hat. Es kann sein, dass sie dich sogar bittet, die Akzeptanz einzuladen. Denn dann hätte die Traurigkeit endlich wieder mal Zeit für sich, weil sie nicht dauernd das Gefühl haben müsste, dich nicht allein lassen zu können.
...und wenn erstmal die Akzeptanz da ist, ändert sich ohnehin alles."
Wer dabei Unterstützung benötigt, seine Herzmauer abzubauen: Hier geht's lang!